Liebesnest oder Lagerkoller? Sexologinnen-Tipps für die Zeit der Corona-Beschränkungen
Wir erleben derzeit während der Corona-Pandemie eine für uns alle, für jeden einzelnen wie für Paare ungewohnte Situation. Eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit stellt uns selbst, aber auch die Partnerschaft vor ganz neue Möglichkeiten – oder eben auch Hindernisse. Während wir von ORION uns freuen, dass Paare wieder enger zusammenrücken und Halt beieinander finden, stellt Corona mit all seinen Folgen so manche Partnerschaft, gleich ob mit oder ohne Kinder, ganz schön auf die Probe. Wir wollen die Meinung einer Expertin hören: Jill Tammling ist studierte Sexologin und kennt sich mit partnerschaftlichen Konflikten und deren Lösungen bestens aus.
Fangen wir vielleicht zunächst mal mit dem Best Case an: Paare suchen in dieser außergewöhnlichen Situation Halt und Verbindlichkeit in ihrer Partnerschaft. Kannst du erklären wieso?
Es herrscht eine Mischung aus Vorsichtsmaßnahmen, Sorgen um die eigene Gesundheit und die unserer Familie und dem traurigen Wissen, dass wir für unbestimmte Zeit auf Verabredungen und Unternehmungen und all unsere gewohnten Freiheiten, wie wir sie kennen, verzichten müssen. Das irritiert und es müssen Wichtigkeiten neu bewertet werden. Der geliebte Mensch an unserer Seite kann da ein zuverlässiger und sicherer Begleiter sein, um sich trotz all der Einschränkungen geborgen zu fühlen. Je nachdem, welche emotionalen Höhen und Tiefen man in der Beziehung bereits überstanden hat, zeigt sich nun noch einmal mehr, wie wohl wir uns mit dem Partner oder der Partnerin fühlen.
Derzeit verbringen Paare ungeplant und sicher auch ungewollt bedeutend mehr Zeit zusammen. Nicht immer gibt es genügend Ausweichmöglichkeiten. Und leider birgt das auch ein höheres Konfliktpotenzial. Wie genau kommt es dann zu Konflikten?
Verschiedene Erwartungen zwischen den beiden Menschen können zur Eskalation führen. Auch schon vor dem Corona-Virus konnten manche Paare mit diesen Kollisionen der Bedürfnisse nicht unbedingt gut umgehen. Doch in dieser Zeit gibt es kaum Ablenkungsmöglichkeiten. Jedem Menschen fällt es mehr oder weniger leicht, die eigenen Wünsche seinem Gegenüber mitzuteilen. In der permanent gemeinsamen Zeit braucht es jedoch umso mehr Kommunikationsbereitschaft, damit beide Partner für sich selbst sorgen und gleichzeitig kreative Lösungen finden können, damit die Beziehung weiterhin Kraft spendet anstatt Kraft zu rauben.
Paare, die seit über 20 Jahren zusammenleben durchleben diese Zeit jetzt möglicherweise anders als solche, die sich erst seit zwei Jahren oder noch kürzer kennen. Welchen Unterschied macht das deiner Meinung nach?
Man lernt auf einmal neue Facetten von sich selbst und auch von den anderen Menschen in seinem Leben kennen. Da kommt es auch nach vielen Jahren Beziehung durchaus zu Überraschungen. Je nachdem wie stabil und eingespielt die Partnerschaft ist, lassen sich eher Wege finden, den Herausforderungen des gegenwärtigen Alltags zu begegnen. Man kennt die Muster des anderen und kann erahnen, welche Herangehensweisen positiv wirken, um seinem Liebling etwas Gutes zu tun. Die Macken des anderen, die man ursprünglich vielleicht als Kleinigkeiten wahrgenommen hat, kommen jetzt noch einmal richtig zum Vorschein.
Nach wenigen Jahren Beziehung profitieren möglicherweise noch frischverliebtere Paare aber auch schon von einer gewissen Routine. Trotzdem ist die Rund-um-die-Uhr-Anwesenheit für alle Paare eine wahre Beziehungsprobe, weil man indirekt dazu aufgefordert wird, sich die Frage zu beantworten, ob der andere Mensch – immer noch – derjenige ist, mit dem man am liebsten seine Zeit verbringt. Es kann hilfreich sein, auch an dieser Stelle die eigenen Ansprüche zu hinterfragen und möglicherweise zu verändern.
Was kann man tun, um Streit zu vermeiden?
Eine Empfehlung ist, sich bewusst miteinander zu verabreden. Zuvor ist es jedoch wichtig, genügend Zeitfenster zu schaffen, in denen man sich alleine beschäftigt. Eigene Lieblingsaktivitäten zu machen sorgt für ein wenig Distanz, um sich wieder auf den Partner oder die Partnerin zu freuen. Das funktioniert natürlich ein wenig anders auf begrenztem Raum. Man kann jedoch alleine ein Buch lesen, eine Stunde Yoga üben, sich Musik aussuchen, etwas Künstlerisches herstellen oder einfach draußen für sich alleine sein – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt! Wenn man mit dem Partner oder der Partnerin eine Verabredung getroffen hat, gilt es, gezielt Paar-Zeit zu verbringen. So kann man beispielsweise zusammen kochen, sich gegenseitig massieren oder einfach einen gemeinsamen Spaziergang in der Frühlingssonne machen.
Ziel ist es, die (sowieso vorhandene) Nähe in ein festgelegtes Rahmenprogramm einzubetten, um darin frischen Genuss zu erleben. Es kann auch aufregend sein, wenn einer der beiden für dieses Setting verantwortlich ist und die andere Person sich dazu bereit erklärt, sich darauf einzulassen. Am nächsten Tag ist dann der andere an der Reihe, sich eine gemeinsame Aktivität auszudenken. Sex zu haben ist natürlich auch eine mögliche Erfahrung, die zusammenschweißt, gerade in Zeiten von Corona.
Ich habe hier noch einen wichtigen Tipp: Über bestimmte Themen, die für Zündstoff sorgen könnten, sollte man sich in dieser Paar-Zeit und in ausgewählten Räumen nicht unterhalten. Zum Beispiel ist die Auseinandersetzung zum Haushalt im Schlafzimmer nicht erlaubt – andersherum wird in der Küche nicht über die Arbeit gesprochen.
Die Frage erscheint schon fast paradox, aber sollten Paare jetzt nicht ganz bewusst und eigentlich noch häufiger als sonst die intime Nähe zueinander suchen, Zärtlichkeiten austauschen oder eben auch Sex miteinander haben, um die Gefahren des Lagerkollers zu umgehen? Schließlich schaffen Zärtlichkeiten und Sex auch Harmonie und bauen Stress ab, der auch jetzt in diesen außergewöhnlichen Zeiten entsteht – obwohl oder gerade weil Paare im Homeoffice oder sogar gar nicht arbeiten können.
Wenn Paare gerne miteinander schlafen, ist das auf jeden Fall auch in dieser Situation sinnstiftend. Doch sobald Sex zu einem Druckmittel wird, kann es in der räumlichen Begrenzung schwierig werden. Aus Pflichtgefühl oder nur dem anderen zuliebe in sexuellen Kontakt zu gehen ist keine gute Idee. Es lässt sich dennoch festhalten, dass Sex verbindet und wir uns durch körperliches Beisammensein wohler fühlen können. Sich für den anderen etwas Schönes und Sinnliches auszudenken, kann einen neuen Impuls für die Sexualität in diesen aufreibenden Wochen bringen.